Tragik-komisches Singspiel

Stehende Ovationen satt erntete das spiel- und sangesstarke Ensemble für die Premiere von „Istanbul“, die jüngste Produktion am Alten Schauspielhaus. Und völlig zurecht. Reinhold Weiser alias Klaus Gruber vollführt die Gastarbeiterrolle rückwärts grandios. (…) Ein einziges Wechselbad der Gefühle zwischen Komik, Tragik und purer Lebensfreude. „Istanbul“ erzählt nicht nur von Klaus‘ Sehnsucht: Das Singspiel mit Band untermauert diese Zerrissenheit noch durch die herzanrührenden Lieder und Balladen der Popsängerin Sezen Aksu. Fast schon genial: Ursula Berlinghofs „Sen Aglama“, das sie als Gattin Luise singt, weint, schnieft und schluchzt – zum Steinerweichen. Auch wenn einzelne Hauptfiguren wie Weisers Klaus, Berlinghofs Luise und Aykut Kayaciks Ismet naturgemäß herausragen: Vor allem zeigt der Abend eine gewaltige Ensembleleistung unter Regisseur Murat Yeginer. Selbst die vier Bandmitglieder an diversen inner- und außereuropäischen Instrumenten agieren mit auf der Bühne. (…) Einfacher Kniff, riesige Wirkung, die Geschichte herumzudrehen. Die Parallelen zu den Biografien türkischer Gastarbeiter hierzulande stimmen eins zu eins. (…) Durch den Perspektivwechsel rückt „Istanbul“ zum Glück ab von jeglichem falschen Betroffenheitsgetue, das anderen Stücken mit ähnlichem Thema gern anhaftet. (…) Einziger Wermutstropfen an dem Abend: Das Premierenpublikum, die Kritikerin schließt sich da mit ein, hätte etwas weniger zögern können, und einfach gleich mittanzen. Es ist halt hüben wie drüben: Integration braucht immer auch etwas Mut.

Gespiegeltes Gastarbeiterschicksal

Auf dieses Stück scheint Stuttgart gewartet zu haben: »Istanbul« im Alten Schauspielhaus wurde am Freitagabend anhaltend und lautstark bejubelt. Auch stehende Ovationen gab es. Das Stück schafft etwas, das man als vornehmste Aufgabe von Theater bezeichnen könnte – wenn man überhaupt einen Zweck unterstellen will: Es weckt Empathie und Verständnis füreinander. Viele Deutschtürken aus der Stuttgarter Stadtgesellschaft – das Deutsch-Türkische Forum Stuttgart ist Kooperationspartner – waren zur Premiere des Schauspiels von Selen Kara, Torsten Kindermann und Akin E. Sipal gekommen und feierten mit dem übrigen Publikum das Ensemble und die aus Murat Bay, Apostolos Naumis, Mert Eylem Sezgin und Benjamin Stein bestehende Live-Band, als wären sie Rockstars. (…) Das türkisch-deutsche Ensemble macht aus der Textvorlage einen nachdenklichen, genussvollen und vor allem warmherzigen Theaterabend. Regisseur Murat Yeginer, gebürtiger Türke und Hamburger Jung, findet wunderbar die Balance zwischen dem Ernsten und dem Heiteren, dem Tiefgründigen und dem Leichten. Klaus Gruber, mit bestrickender Menschlichkeit gespielt von Reinhold Weiser, ist von Anfang an eine starke Identifikationsfigur. Weil er an der Heimat, die er schweren Herzens zurücklässt – auf Zeit, wie er anfangs glaubt –, hängt. (…) Auch ein Konflikt mit seinem Sohn (mit beeindruckender Bühnenpräsenz dargestellt von Irfan Kars), für den Istanbul die eigentliche Heimat ist und der mit dem Ländle, das seine Eltern aus der Ferne verklären, fremdelt, bleibt später nicht aus. (…) Aykut Kayacik und Selda Falke haben als Figuren der türkischen Mehrheitsgesellschaft starke Momente. (…) Ursula Berlinghof ist als Luise zweierlei: eine bisweilen komödiantisch angelegte Figur. Dann aber auch immer wieder eine begnadete Sängerin, die den auf Türkisch gesungenen Liedern von Sezen Aksu Feuer und Seele gibt. Allein schon das lohnt den Kauf des Theatertickets! Zwischen Melancholie und Lebensfreude wechseln die Stimmungen in den Liedern. (…) Alle Darstellerinnen und Darsteller (wissen) als Sängerinnen und Sänger im Stück (die Textzeilen) auf ihre jeweils eigene Weise mit das Publikum erreichenden Gefühlen aufzuladen. Der musikalische Leiter Torsten Kindermann hat da ganze Arbeit geleistet. Beate Zoffs realistisch-poetische Bühne und Kostüme tragen mit dazu bei, dass man Zugang zu Istanbul und den Figuren findet.

Klaus aus Untertürkheim wandert aus

Ein Theaterabend, der mit zwei Zugaben endet, das ist schon ziemlich außergewöhnlich. Da hält die meisten Zuschauer am Alten Schauspielhaus schon lange nichts mehr auf den Sitzen, Begeisterung in allen Reihen. Eine Stimmung wie bei einem Popkonzert. (…) Die überbordende Stimmung wäre ohne die Musik (von Sezen Aksu) nicht denkbar. Aber „Istanbul“ ist eben kein Konzert, sondern ein musikalisch angereichertes Bühnenstück, das auf vielen Ebenen begeistert. Die Grundidee ist so simpel wie genial: Die Migrationsgeschichte der sogenannten Gastarbeiter haben die Autoren Selen Kara, Torsten Kindermann und Akın Emanuel Şipal einfach umgedreht. Das Wirtschaftswunder hat nicht in Deutschland, sondern in der Türkei stattgefunden. Und so macht sich jetzt Klaus aus Untertürkheim auf, um sein Glück in Istanbul zu machen. (…) Reinhold Weiser spielt diesen Klaus mit Temperament, aber nie als Karikatur eines schwäbischen Provinzlers. Klar, es gibt den einen oder anderen Gag, wenn eben unbedingt der VfB-Schal noch mit muss. Doch in diesem Theatertext ist die Poesie nicht nur in den Liedern Sezen Aksus allgegenwärtig, deren Texte als Obertitel projiziert werden. (…) So ist „Istanbul“ auch eine erhellende Lektion in Sachen Empathie, die aber nie moralinsauer daherkommt. Dafür ist das Stück zu unterhaltsam, ist das Mitwipp-Potential zu groß, wenn die vierköpfige deutsch-türkische Band aufspielt. Die Inszenierung von Murat Yeginer wird immer wieder zum Volksfest, da wird dem Publikum Chai ausgeschenkt und es zieht eine Polonaise durch den Saal.

Zwischen heimisch und heimatlos

„Istanbul“ im Alten Schauspielhaus ist eine fantastische Verneigung vor der Vielfalt. (…) Mit (einem) raffinierten Perspektivwechsel beleuchtet das Theaterstück (…) das Schicksal von Millionen von Gastarbeitern, die in den 60er Jahren in Deutschland unter oft schwierigsten Bedingungen ein neues Leben begannen. Was für einen Volltreffer das deutsch-türkische Autorentrio Selen Kara, Torsten Kindermann und Akın E. Sipal damit landet, zeigt die überwältigende Resonanz auf das Stück: Lachen, weinen, singen, tanzen – der Theatersaal im Alten Schauspielhaus brodelt über vor Emotionen. Im Zentrum der tragikomischen Geschichte steht dabei die Musik der Popsängerin Sezen Aksu, die in der Türkei ein absoluter Superstar ist und von allen Darstellern auf Türkisch und hohem Niveau gesungen wird – herausragend aber von Ursula Berlinghof: Wie sie in ihrem hellblauen Kittelkleid die Sehnsucht nach ihrem Klaus im fernen Istanbul heraussingt, ist an Emotionalität kaum zu überbieten. (…) Das Bühnenbild von Beate Zoff ist das i-Tüpfelchen der Inszenierung: Links die Café-Szenerie mit den Musikern, die durch die räumliche Nähe mit dem Bühnengeschehen quasi verschmelzen, in der Mitte ein bunter Teppich, der Innenräume suggeriert, dahinter Treppenstufen, rechts die Fassade des Hauses, wo die Grubers in Istanbul wohnen. Dazu auf großer Leinwand Stadtbilder Istanbuls, auch des Stadtteils Balat, in dem Familie Gruber über mehrere Jahrzehnte lebt. Und so gelingt in Stuttgart, was Ensemble wie Autoren-Trio sich erhofft haben: Zuwanderergeschichten aus allen Zeiten und Regionen werden hautnah erlebbar und lesbar als Plädoyer für Toleranz und Freundschaft in unruhigen politischen Zeiten.

Der Neckar ist kein Bosporus

An den Schauspielbühnen Stuttgart wird das Stück „Istanbul” vom Publikum gefeiert. Hier landet kein türkischer Gastarbeiter in Deutschland, sondern ein Stuttgarter am Fließband in Istanbul. Gesungen wird dazu auf Türkisch – melancholisch und rhythmisch. (…) Am Ende jubelt das Publikum stehender Weise und frenetisch (…) Die Idee des Plots ist auch wirklich gut: Der Spieß wird rumgedreht, in den 1960er Jahren kommen dementsprechend nicht die Arbeiter aus der armen Türkei, um per Anwerbeabkommen die deutsche Wirtschaft zur Blüte zu bringen, sondern umgekehrt. Klaus Gruber ist einer von ihnen. (…) Gesungen wird durchweg auf Türkisch. In „Istanbul“ werden viele Songs von Sezen Aksu, der türkischen Queen of Pop, verbraten. (…) Richtig gut singt Ursula Berlinghof als Huber-Frau Luise, die intonationssicher und ausdrucksstark zur Sache geht. (…) Das Publikum liebt den Abend, klatscht mit, lässt sich gerne vom Ensemble zum Tanzen, Chai- und Raki-Trinken animieren. So gut ist die Laune selten in Theatern.

Fremd geworden

Das Stück folgt dem Modell der “verkehrten Welt”. Was, wenn nach 1945 nicht Deutschland, sondern die Türkei ein wirtschaftlich reiches Land geworden wäre und Deutsche als “Gastarbeiter” dorthin migriert wären? Die erzieherische Bedeutung von “Istanbul”, seine Funktion, Verständnis zu erzeugen für das Fremde und für die Situation eines Fremden, könnte leicht auf Kosten der theatralen Qualität gehen. Tut es aber nicht. Die Story ist (…) umgesetzt in lebendige Dialoge und durch die Musik und die Darsteller*innen vor Durchhängern bewahrt. (…) Das Stück verzichtet auf Lehrsätze, auf Agitation. Text und Inszenierung setzen auf identifikatorische Teilnahme. (…) Regie führt Murat Yeginer, der in der Türkei geboren wurde, in Deutschland aufgewachsen ist und 2008 bis 2014 Schauspieldirektor in Pforzheim war. Der Schauspieler, Regisseur und Autor kennt beide Hälften des Personals, die Türken und die Deutschen, aus unmittelbarer Erfahrung. Das ist zwar nicht Bedingung für solch eine Aufgabe, erweist sich aber als hilfreich.

Ein tragikomisches Singspiel über einen Perspektivwechsel

Schon beim kurzen Probenbesuch ein rührendes Wechselbad der Gefühle zwischen Komik, Tragik und purer Lebensfreude. Reinhold Weisers Klaus sitzt verloren in einem Istanbuler Straßencafé und resümiert über die peinliche Gesundheitsprüfung vor der Abreise. (…) Doch lange bleibt es nicht bei Contrabass-gefärbter Melancholie und Heimweh. Die Liveband spielt auf zum Halay, Aykut Kayaciks Ismet, später Klaus‘ Freund, stimmt dazu ein Mutlied an „Hadi Bakalım“ – „Es möge dir leichtfallen“. Und dieses Lied hält einen kaum auf dem Sitz – durchaus möglich, dass der eine oder die andere aus dem Parkett bei den Aufführungen ab dem 9. Juni das Tanzbein schwingen werden. (…) Irgendwann (werden Klaus und seine Familie) in der Türkei „die Deutschen“ sein und zuhause „die Türken“. Heimatlos. Und bei traurigen Anlässen womöglich „Sen Aglama“ singen, so wie Gattin Luise. Allein der Titel, genial gesungen, fast geweint von Ursula Berlinghof, könnte schon den Theaterbesuch lohnen, sorgt für umso mehr Gänsehaut, weil er fern der Heimat noch einmal anders klingt.

„Istanbul“ aus der Feder des Autorentrios Selen Kara, Torsten Kindermann und Akın E. Sipal guckt augenzwinkernd ernsthaft hinter die Klischees und Vorurteile, durch den simplen Trick, den Geschichtsspieß herumzudrehen und Deutsche als Bittsteller um Arbeitsplätze und Aufnahme in die Gesellschaft in die Türkei zu schicken anstatt umgekehrt. Und blickt genau dadurch tief ins Urmenschliche, ins Seelenleben Gestrandeter.

Probenbesuch bei iSTANBUL

„Istanbul“, das zeigt ein erster Blick in den Proberaum, geht unter die Haut und ins Ohr und bleibt im Kopf. (…) Der Perspektivwechsel bewirkt, dass man als Zuschauer plötzlich selbst in der Haut eines sogenannten Gastarbeiters steckt, zumindest jedoch erahnen kann, was es mit einem macht, wenn man Familie und Freunde und den VfB! – zurücklässt, um in einem fremden Land seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Axel Preuß, Intendant des Schauspielhauses, sieht „Istanbul“ erwartungsvoll entgegen. Auch weil das Stück viel mit Stuttgart zu tun hat. „Diese Geschichte muss hier erzählt werden“, sagt er (…) und ist sich darin einig mit Kerim Arpad, dem Geschäftsführer des Deutsch-Türkischen Forums, der das Rahmenprogramm zu dem Theaterstück besteuert: Filmvorführungen und Gespräche mit berufenen Persönlichkeiten – von Edzard Reuter über Wolfgang Schuster bis Muhterem Aras im Anschluss an die Vorstellungen. „Die Gastarbeitergeschichte wird noch immer zu wenig wahrgenommen“, sagt Arpad. Sie wird wohl auch zu wenig erzählt. Höchste Zeit, dass das nachgeholt wird, findet er – zumal in dieser „exzellenten Form“. (…) Einem Genre lässt sich das Stück nicht zuordnen. Am ehesten ist es ein „Singspiel“, sagt Regisseur Murat Yeginer. Die Lieder der populären türkischen Popsängerin Sezen Aksu spielen darin eine wichtige Rolle.