Die Laborantin

Über den skalierten Menschen

In „Die Laborantin“ (…) rückt das bereits jetzt allgegenwärtige Thema Gesundheitsoptimierung erschreckend nah an die Zuschauer im Alten Schauspielhaus heran. Das gelingt in der (…) Inszenierung von Martin Schulze (…) gleich aus mehreren Gründen hervorragend. (…) (Es) entsteht ein eindrückliches Gesamtwerk, in das der Zuschauer während der zweistündigen Dauer fast wie in einen Film eintaucht. Verstärkt wird diese Sogwirkung durch das kraft- wie humorvolle, sehr lebensechte Spiel der vier Darsteller, die vor allem mit der anspruchsvollen Umsetzung der echten Dialoge – man fällt sich ins Wort, gibt eine Antwort, bevor die Frage gestellt ist – beeindrucken. Ergänzend dazu sorgen die gegenwartsnahe Sprache und das eben nicht futuristische Bühnenbild mit Bonsai und Holzoptik für eine noch stärkere Identifikation mit den Geschehnissen im Stück, ebenso wie die intensive Musik – (…) Und so wird manch ein Zuschauer ein gleichwohl begeistertes wie beklemmendes Gefühl mit auf den Weg nach Hause nehmen, wo er den Fitnesstracker womöglich erst einmal abschaltet und Beas Ausspruch „Die Welt braucht keinen Low-Rate-Nachwuchs“ noch lange in ihm nachhallt.

Wie hoch ist dein Lebenswert?

Mit „Die Laborantin“ (…) bereichern die Schauspielbühnen Stuttgart das Programm fürs Alte Schauspielhaus mit einem hochaktuellen Bühnenstoff. Die Regie hat Martin Schulze übernommen. Mit ihrem Erstlingswerk packt die britische Autorin Ella Road ein hochbrisantes Thema an: die Bewertung des Individuums nach der wissenschaftlichen Analyse seines Erbguts. Welche Folgen das für Mensch und Gesellschaft hat, führt Ella Road an vier Figuren beispielhaft vor. (…) Auch die zwischen den Bühnenszenen eingeschobenen Videos (Christopher Buehler) haben Schärfe und Biss (…). Gelungen ist die Ausstattung von Ariane Scherpf, die über die Kleidung viel über die Entwicklung ihrer Figuren erzählt und ein drehbares Tiny House mal Labor, mal Apartment sein lässt. Ein Bonsai-Ziergewächs im clean-schicken Ambiente dient als Metapher für die beherrschte Natur. Der Gedanke an die Gen-Schere ist da nicht weit. Als Bea ihrem zuvor geliebten Aaron vorwirft: „Du bist ein Cocktail aus Dreck“, die Radionachrichten von der Ermordung von Menschen mit Höchstwerten zwecks Blutraub berichten und die Tötung von Säuglingen „postnatale Abtreibung“ genannt wird, zeigt sich die Dystopie in ihrer ganzen Düsternis, die so irreal nicht erscheint.

Gutes Blut und schlechtes Blut

Was ist ein Mensch wert? In Ella Roads erfolgreichem Stück von 2018 lässt sich dies ganz klar berechnen. (…) Josepha Grünberg (hier bereits als Holy Golightly in „Frühstück bei Tiffany“) und Fabian Oehl (der Mortimer in „Maria Stuart“) geben ein wunderbar frisch verliebtes Paar ab. Und verlieren genauso glaubhaft ihren Idealismus unter dem Druck des Ratings. (…) Vordergründig ist freilich alles gut gemeint. Jeder habe ein Recht, zu erfahren, welches Risiko er in sich trage. Keiner müsse den Test machen, keiner ihn preisgeben. Die Realität jedoch sieht anders aus. (…) Aus dem medizinischen Mehrwissen wird eine soziale Schere. Das gilt auch für Beas beste Freundin Char (Anna-Sophie Fritz) mit einer Rate von 2 und der Aussicht auf Morbus Huntington. Verlockend für Bea, das Rating ihrer Freundin zu manipulieren. Ein blutiges Geschäft und ein lukratives.